„P E R E S T R O I K A"

                           Mit drei GUZZI-Gespannen auf Tour!

Manchmal dauert es sehr lange, bis ein Wunschtraum in Erfüllung geht. In meinem Falle genau l0 Jahre!

Seit 1982 hatte ich immer wieder versucht, ein Visum für eine Motorradreise durch Russland -ohne Buchung über Intourist oder andere Reiseveranstalter- zu erhalten. Die vielen Anträge wurden aber immer wieder mit der Begründung abgelehnt, dass eine Einreise mit dem Motorrad gesetzlich nicht zu1ässig sei.

Die Entwicklungen der letzten Jahre, der Aufbau von Städtepartnerschaften und die damit verbundenen engen Kontakte zwischen den Städten Speyer und Kursk ließen mich Anfang 1992 einen erneuten Versuch starten. Über eine Mitarbeiterin erhielt ich die Anschrift eines deutsch sprechenden Arztes in Kursk.

Er -Lenar Achmetsjanow- besorgte die offizielle Besuchsgenehmigung der Mi1izbehörden in Kursk für mich(50), sowie für meine Mitreisenden Holger (48), Hans-Rainer (49) und Heinzjürgen (53).

Ein Empfehlungsschreiben der Stadt Speyer verschaffte mir einen Termin an höherer Stelle der russischen Botschaft. Den verantwortlichen Mitarbeitern der Stadtverwaltung gilt in diesem Zusammenhang unser besonderer Dank.

In der Botschaft wurde mir versichert, unsere Visa-Anträge für eine Einreise mit dem Motorrad wohlwollend zu prüfen.

Nach einigen Tagen erhielt ich tatsächlich einen Anruf des Botschaftssekretärs, in dem er mir mitteilte, dass eine Einreise mit Motorrädern nach wie vor gesetzlich nicht zulässig sei. Er erklärte sich allerdings bereit, für eine Visa-Erteilung, unter Verzicht auf die normalerweise vorgeschriebenen Hotelbuchungen, zu sorgen. Betont wurde von ihm, dass es im Ermessen des zuständigen Grenzoffiziers liege, ob wir mit dem normalen Visum einreisen könnten oder nicht. Für uns war damit klar, dass wir ggf. an der finnisch/russischen Grenze unsere Urlaubspläne ändern müssten.

Das wäre auch nicht besonders tragisch gewesen. Da wir Finnland noch nicht kannten, wäre eine Rundreise in diesem Land eine geeignete Alternative gewesen.

Kurz vor unserem Start am 06.08. war der OB der Stadt Kursk zu Gesprächen in Speyer. Wieder war es der zuständige Beigeordnete der Stadt Speyer, der unser Vorhaben unterstützte. Aufgrund einer von mir mehr scherzhaft gemachten Äußerung besorgte er uns noch ein Bestätigungsschreiben des Kursker OB, aus dem zu entnehmen war, dass wir im Rahmen der Städtepartnerschaft nach Kursk eingeladen seien und mit Motorrädern reisen würden.




Einladung

Wie sich dann zeigte, öffnete uns dieses Schreiben das Tor nach Russland.

Unsere Reiseroute ging von Römerberg, über Oberhausen/Rh. nach Travemünde, von dort mit der Fähre nach Helsinki und dann weiter auf folgender Route: Vyborg, St.Petersburg, Nowgorod, Moskau, Kursk, Smolensk, Minsk, Brest, Warschau, Frankfurt/Oder, Berlin,
Oberhausen, zurück nach Römerberg.
Reisedauer: 6.o8. - 23.o8.92
Landwegstrecke: 5.897 Km.




Routenplan

Bei der Ausreise aus Finnland nach Russland wies uns der finnische Grenzbeamte daraufhin, dass wir wohl kaum mit einer Einreiseerlaubnis -trotz Visum- rechnen könnten. Bei der Ankunft am russischen Zoll schien es zunächst so, als solle er Recht behalten.

Nach Einsicht der Pässe und Visa wurde uns deutlich gemacht, dass man nicht mit dem Motorrad nach Russland einreisen könne. Mein letzter Trumpf war nur nach das Schreiben des Kursker Oberbürgermeisters. Ich erklärte dem Grenzoffizier, dass wir im Rahmen der Städtepartnerschaft nach Kursk eingeladen seien und dass diese Reise, wie vom OB bestätigt, mit Motorrädern vorgesehen sei.

Er las das Schreiben und sagte nur: „I call my Boss”.

Nach ca. l0 Minuten erschien er mit seinem Chef, ein Lachen im Gesicht und eröffnete uns, das alles in Ordnung sei. Innerhalb weniger Minuten erhielten wir die erforderlichen Stempel und konnten ohne weitere Kontrollen einreisen.

Das Gefühl, das uns auf russischem Boden befiel, lässt sich nur schwer beschreiben. Ein lang gehegter Wunsch war in Erfüllung gegangen. Die erste Anspannung fiel von uns ab. Wir begannen die Reise zu genießen, obwohl der doch recht abenteuerliche Teil noch vor uns lag.

Unser erster Aufenthalt war in St. Petersburg geplant. Vor uns lagen rund 18o km. Normalerweise kein Problem. Aber die russischen Straßen sind überwiegend in einem unbeschreiblich schlechten Zustand. Mit unseren niedrig liegenden Gespannen mussten wir höllisch aufpassen, um den tiefen Sch1aglöchern oder den bis zu 15 cm über dem Straßenbelag liegenden Kanaldeckeln auszuweichen. Gab es keine Schlaglöcher oder sonstige Hindernisse, hatte man das Gefühl, über ein Waschbrett zu fahren. Trotz dieser Straßenverhä1tnisse erreichten wir am Abend den noch von Intourist betriebenen Campingplatz Olgino, ca. 12 km vor St.Petersburg.


Campingplatz Olgino


Für den nächsten Tag stand eine Besichtigung der zumindest wesentlichsten Sehenswürdigkeiten auf dem Programm. Leider war die uns zur Verfügung stehende Zeit viel zu kurz. Diese Stadt ist so sehenswert, dass man mindestens eine Woche bleiben müsste.


Blut- oder Erlöserkirche



Schloßplatz


Dank eines privaten „Taxifahrers“, der uns den ganzen Tag zur Verfügung stand, uns kreuz und quer durch die Stadt und zum Abschluss in ein rustikales, nur von Russen besuchtes Restaurant fuhr, haben wir doch relativ viel in der kurzen Zeit von der Stadt gesehen und einen Eindruck von ihrer Schönheit gewonnen.



Unser Privattaxi


Am Tag unserer Weiterreise haben wir uns dann in dieser Millionenstadt ordentlich verfahren. Ratlos standen wir mit unseren Karten an der Er1öserkirche, als uns zwei junge Russen anboten, uns aus der Stadt zu schleusen. Ein Vorhaben, das auch bestens gelang. So wie in St.Petersburg fanden wir in allen anderen Gegenden Russlands immer wieder äußerste Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft. Beides konnten wir auch immer wieder gebrauchen, da es zumindest im Zusammenhang mit der Benzinversorgung und den Unterkunftsfragen ständig Probleme gab.

Unsere MOTO-GUZZI-Motorräder benötigen zum Betrieb grundsätzlich verbleites Superbenzin (A) mit 98 Oktan. So etwas gibt es in Russland nicht. Ein einziges Mal haben wir auf der Strecke nach Moskau 40 l Kraftstoff mit angeblich 96 Oktan erhalten, und das nur gegen Zahlung mit Devisen.

Im Übrigen waren wir schon froh, wenn wir Normalbenzin mit 93 Oktan bekommen konnten. Bis Moskau gab es keine sehr großen Probleme, da auch Privatleute mit 20 l Kanistern an der Straße standen, um den Kraftstoff gegen Devisen zu tauschen. Standardpreis waren pro Liter o,5o DM, für uns ein preiswertes Vergnügen.

Zwei- oder dreimal haben wir auch A93 gegen Zahlung in russischer Währung erhalten. Wir mussten dann für 40 Liter umgerechnet DM 2,88 bezahlen. Ein Spottpreis, gemessen an den bei uns üblichen Spritpreisen.

Glück gehabt, es gab etwas Benzin

Südlich von Moskau wurde die Benzinversorgung immer schlechter. An den Tankstellen gab es nur noch Benzin mit 76 Oktan, für uns völlig unbrauchbar. Wir waren auf Angebote von Privatleuten und Schwarzmarkthänd1ern angewiesen. Getankt haben wir auf Hinterhöfen und auf Parkplätzen. Selbst aus Autotanks wurde Benzin mittels Schlauch abgesaugt, um es uns gegen harte DM oder Dollar verkaufen zu können.

Die andere Art zu tanken



Für jedes Gespann gab es ein paar Liter

So gesehen waren wir privilegiert. Gegen Devisen sind in Russland viele Dinge zu bekommen, die offiziell nicht im Handel sind. Der Schwarzmarkt blüht, wo immer wir auch waren.

Wenn man in Russland unterwegs ist, ohne Unterkünfte über die Reiseveranstalter gebucht zu haben, muss man damit rechnen, nachts auf der Straße zu stehen. Wir hatten uns von vornherein darauf eingestellt, zu campen. Auf meiner Straßenkarte der ehemaligen UDSSR waren auch ausreichend Plätze an unserer Strecke verzeichnet. Aber seit 1989 befand sich alles im Umbruch. Fast alle Plätze waren zwischenzeitlich geschlossen. Das hat dazu geführt, dass wir auch im Freien übernachten mussten. Dazu später noch einige Anmerkungen.


Zunächst war unser nächstes Etappenziel Moskau,

Noch ist es ein weiter Weg

das wir am 12.08. erreichten. Nachmittags gegen 14:00 Uhr standen wir am Roten Platz und konnten die entsprechenden Erinnerungsfotos schießen.



Das obligatorische Bild vor dem Roten Platz, leider war er abgesperrt


Für 5 Dollar engagierten wir anschließend einen Taxifahrer, der uns durch das chaotische Verkehrsgewühl auf den richtigen Weg zum RUSS-Hotel “So1netchy" mit seiner Bungalowanlage brachte.

Über eine mir bekannte Aussiedlerfamilie hatte ich die Anschrift eines russischen Gewichthebertrainers in Moskau erhalten. Der Versuch, ihn am Abend noch telefonisch zu erreichen, schlug fehl. Eine nette Dame in der Hotelrezeption versprach mir, ihr Glück weiterhin zu versuchen, um den Kontakt herzustellen. Am nächsten Morgen gegen o9.3o Uhr stand Soltan Karatokow, gemeinsam mit seinem Freund Georgi bereits an der Hotelrezeption. Ein Paar wie Pat und Patachon. Der eine hauptberufliche Leichtgewichtstrainer, der andere Schwergewichtstrainer. Entsprechend dieser Gewichtsklassen sahen beide auch aus. Sie verstanden weder deutsch noch englisch und wir beherrschten die russische Sprache nicht. Ein nur scheinbares Problem. Die Verständigung klappte mit Händen und Füßen, Papier und Bleistift ganz hervorragend. Wir haben uns während des ganzen Tages angeregt „unterhalten“ können.



Mit Soltan und Georgi planen wir die Stadtbesichtigung


Zu sechst quetschten wir uns in den Lada der Beiden und fuhren in das Stadtzentrum. Wieder hatten wir zwei äußerst hilfsbereite und ortskundige Fremdenführer gefunden. Ob Kreml, Basilika, Lenin-Mausoleum, Kaufhaus Gum oder Metro, die Touristenattraktionen wurden uns gezeigt.

Heinzjürgen, Georgi, Hans-Rainer, Soltan und Holger

Erinnerungsphoto im Kaufhaus Gum




Blick auf die "Einkaufsmeile"


Es war ein erlebnisreicher Tag. Energisch lehnten beide Geschenke oder Bezahlung des Benzins ab. Ein bestimmendes “Freundschaft” in Deutsch war die einzige Äußerung zu diesem Thema. Hier wie auch in anderen Fä1len mussten wir unseren Dank unbemerkt zum Ausdruck bringen.

Die Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft und Offenheit der Menschen, mit denen wir in Berührung kamen, hat uns oftmals sehr nachdenklich gestimmt. In Russland haben wir Dinge gefunden, die es in unserer, so satten Gesellschaft bedauerlicherweise nicht mehr gibt. Ich nehme mich persönlich bei dieser kritischen Anmerkung nicht aus. Dieses Land mit seinen Menschen steht vor riesigen Problemen.

Die schlechte Infrastruktur, die riesigen Entfernungen bei gleichzeitig fehlenden bzw. mangelhaften Verkehrsverbindungen, Umweltprobleme der übelsten Art und auch die Mentalität der Bevölkerung lassen befürchten, das hier ein weiterer Unruheherd in Europa entstehen wird. Wenn der Westen die Bemühungen der russischen Regierung nicht in massiver Weise durch Bereitstellung auch entsprechender, finanzie1ler Hilfen unterstützen wird, ist nach meiner Meinung die derzeitige Entwick1ung zum Scheitern verurteilt.

Den zweiten Tag in Moskau nutzten wir u.a. noch mal für eine Fahrt mit der Metro. Das Ein- und Aussteigen muss dort sehr flott gehen. So etwas ist nicht unbedingt das Richtige für HR. Plötzlich gingen die Türen der Metro zu und er stand mit Erstaunen im Gesicht davor. Ruckzuck war er unseren Blicken entschwunden. An der nächsten Station stiegen wir aus und fuhren zurück. Er war so clever und hatte uns an der gleichen Stelle erwartet. Künftig passten wir alle mehr auf ihn auf.

Roter Platz

Wache vor dem Lenin-Mausoleum



Lenin-Mausoleum und im Hintergrund der Kreml


In Moskau hatten wir auch die erste Gelegenheit, uns aus Russland mit unseren Frauen telefonisch in Verbindung zu setzen. Sie waren froh, dass es uns gut ging. Für sie war es sicher nicht so einfach, tagelang nichts von uns zu hören.

Nach unserem Aufenthalt in Moskau fuhren wir weiter in Richtung Kursk. Eine Strecke von rund 54o km, die wir normalerweise an einem Tag zurücklegen wollten. Aber aufgrund des Straßenzustandes war das nicht zu schaffen.

Zunächst hatte ich auf dieser Etappe ein kleineres, technisches Problem. An meinem Seitenwagen hatte ich an der Schwinge eine Zusatzlichtmaschine angebaut. Bei einer Kontrolle musste ich feststellen, dass die Halterung der Lichtmaschine schon halb abgeschliffen war. Aufgrund des schlechten Straßenzustandes gab es beim Einfedern immer wieder Bodenkontakt, was zu dem Verschleiß geführt hatte.

In einem kleinen Dorf hielten wir deshalb an, um die Lichtmaschine abzubauen. Natürlich waren wir gleich wieder von Einheimischen umringt, die unsere Fahrzeuge bewunderten und immer wieder nach Zigaretten usw. fragten.



Eine Bäuerin verkauft ihre Gartenprodukte


Nach Beendigung der Arbeiten gingen wir zu einem kleinen Haus, um uns, falls möglich, dort zu waschen. Eine alte Frau brachte uns einen Eimer mit Wasser. Es gab in dem Haus kein fließendes Wasser, sondern es musste aus einem Brunnen im Hof gepumpt werden.

Das Mütterchen schüttete mir mit einem Becher das Wasser über die Hände. Als ich fertig war, kam auch HR um seine Hände und das Gesicht zu waschen. Er machte den Versuch, sich direkt aus dem Wassereimer zu bedienen. Das war aber nicht im Sinne des Mütterchens. Sie gab HR zu verstehen, dass er zur Seite gehen solle. Danach demonstrierte sie ihm, wie man sich wäscht.

                 

            Heinzjürgen                               Holger                                       Rainer

So sah man nach 100 km hinter russischen LKW's aus

Sie nahm den kleinen Becher, schöpfte Wasser aus dem Eimer und schüttete sich dieses ins Gesicht, was uns zu einem innerlichen Lachen veranlasste. Zum Abschied überließen wir ihr ein Stück Seife, über das sie sich sehr gefreut hat.

Typisches Bauernhaus

Nach einiger Zeit kamen wir erneut durch ein Dorf, dessen Häuser rechts und links unmittelbar an der Straße lagen. Die Ortsdurchfahrt war vielleicht 300 m lang. Wir fuhren mit einer Geschwindigkeit von 50 bis 55 km/h. Am Ortsausgang wurden wir an einem Kontrollposten von einem Polizisten gestoppt. Er machte uns deutlich, das wir zu schnell gefahren seien und zeigte auf eine Radarpistole, die 72 km/h anzeigte.

Etwa eine halbe Stunde saßen wir in seinem Postenhäuschen und mussten uns seine Belehrungen, die übrigens in gutem Deutsch übermittelt wurden, anhören.

Immer wieder betonte er, dass es teuer würde. HR bekam von Minute zu Minute einen dickeren Hals, während ich mich bemühte, die Angelegenheit möglichst unkompliziert zu lösen.

Nachdem der Polizist uns keinen Betrag nannte, den wir zu zahlen hätten, bot ich ihm 20,00 DM an mit der Bemerkung, damit sei die Sache ja genügend abgegolten.

Er zog ein Bündel mit Geldscheinen der verschiedensten Währungen aus seiner Tasche und legte die 20,00 DM dazu. Es war uns klar, dass er auf diese Weise sein privates Einkommen aufbesserte.

Das konnte uns allerdings egal sein, wichtig war, dass wir endlich weiterfahren konnten.

HR musste aber zunächst zu seiner Beruhigung eine Zigarette rauchen. Von unserem Standort konnten wir auch die Radarpistole sehen. Sie zeigte unentwegt 72 km/h an, obwohl keine Fahrzeuge vorbei fuhren. Offensichtlich war sie defekt und diente nur dazu, Touristen aus westlichen Ländern das Geld aus der Tasche zu ziehen. Aber auch das ist Russland!

Gegen 21.oo Uhr hatten wir gerademal 36o km zurückgelegt und mussten uns nach einer Übernachtungsmöglichkeit umsehen. Ein vergebliches Bemühen. In der Region gab es kein Hotel, keinen Campingplatz und auch privat war nicht unterzukommen.

Ein LKW-Fahrer, den ich kurzerhand gestoppt hatte, half uns dann weiter. Er stellte sein Fahrzeug ab und machte uns deutlich, dass er uns einen Platz zeigen würde, wo wir ggf. unser Zelt aufschlagen könnten. Wir müssten ihn allerdings wieder zu seinem Wagen zurückbringen.

Er stieg in meinen Seitenwagen und nach etwa 12 km gelangten wir an einen kleinen, fast ausgetrockneten See.

In dieser Gegend hatte es seit März nicht mehr geregnet. Abseits der Straße konnten wir nun unseren Lagerplatz aufschlagen. Ganz wohl war es uns bei dieser Sache nicht, da man uns bereits mehrfach vor freiem Campen gewarnt hatte. Aber uns blieb keine andere Wahl.

Wir verzichteten auf das Zelt, schoben unsere Gespanne zusammen und legten uns zwischen den Fahrzeugen auf unseren Luftmatratzen zum Schlafen.

Am nächsten Morgen mussten wir feststellen, das man sich am See nicht mal vernünftig waschen konnte, da das Wasser äußerst verschmutzt war. Nun gut, auch solch eine Situation gehört zu einer etwas ungewöhn1ichen Reise. Wir hatten ja nur noch rund 180 km bis zum Zielort Kursk zu fahren. Die Aussicht auf eine vernünftige Unterkunft ließ uns die vergangene Nacht schnell abhaken.



Nachtlager am See


Gegen 13.3o Uhr erreichten wir dann die Partnerstadt Speyers. Am Ortseingangsschild hielten wir an, da HR das Bedürfnis hatte, sich noch zu rasieren. Wenn schon nicht gewaschen, dann wenigstens ohne Stoppeln im Gesicht.



"Eingeschränkte Körperpflege"


Aufgrund einer guten Wegbeschreibung fanden wir das Haus mit der Wohnung unseres Gastgebers ohne Probleme. Der Eingang lag auf der Rückseite. Holger und ich wollten uns zunächst einmal orientieren. Aus der Haustür kam uns eine Frau mit einem kleinen Mädchen entgegen. Ich fragte sie nach Lenar Achmetsjanow. Sie nickte nur und gab uns zu verstehen, dass wir ihr folgen sollten.

Wir gingen ins Haus, die Treppe hoch bis ins dritte OG. Vor der Tür mit der Nummer 82 blieb sie stehen, schloss sie auf, streckte uns die Hand entgegen und sagte nur „Viktorija“ und bat uns hinein. Das hört sich alles so einfach an, aber ohne Kenntnisse der russischen Sprache war die Verständigung nicht ganz unproblematisch.

Vorgesehen hatten wir die Übernachtung in Kursk in einem Hotel. Viktorija stieg in meinen Seitenwagen und wir fuhren zum Intourist-Hotel in Kursk. An der Rezeption wurden wir nicht gerade freundlich behandelt. Viktorija schaltete sich in das Gespräch ein und fragte nach den Zimmerpreisen. Als sie hörte, dass eine Übernachtung pro Person 40,00 Dollar kosten sollte, sagte sie energisch „Njet“!!

Die Reaktion haben wir erst später verstanden. Zum damaligen Zeitpunkt lag ein Monatseinkommen für eine Ärztin unter dem genannten Betrag.

Es ging zurück in ihre Wohnung. Das Ehepaar Achmetsjanow bestand mit Nachdruck darauf, bei Ihnen zu wohnen. Zunächst war uns das gar nicht recht, denn uns war ja die Situation russischer Familien zwischenzeitlich nichts Unbekanntes mehr. Mit einem Schlag vier Gäste unterbringen und bewirten ist in Anbetracht der dortigen Verhältnisse bestimmt nicht leicht.

Lenar, Victorija und Holger beim Betrachten unseres Reisevideos



Erfolgreiche Verständigung trotz nicht ausreichend vorhandener Sprachkenntnisse

Im Nachhinein muss ich allerdings sagen, dass die Stunden im Kreis von Lenar und Viktorija zu den schönsten und beeindruckendsten unserer Reise gehörten.

Die Selbstverständlichkeit, mit der wir aufgenommen wurden, die gewährte Gastfreundschaft und das sich in wenigen Stunden bildende, herzliche Verhältnis zwischen uns, haben wir als einmalig empfunden. Bedauerlich war nur, das wir aufgrund unseres engen Zeitplanes nicht länger als zwei Tage in Kursk bleiben konnten.

Noch am Ankunftstag lud uns Lenar zu einem „kleinen“ Spaziergang ein. Es wurden 10 Kilometer daraus. Er zeigte uns die landschaftlich schöne Umgebung von Kursk.

"Kleiner" Spaziergang


Im Vordergrund Renata, die Tochter von Lenar und Victorija




Kirche in Kursk



Innen prunkvoll ausgestattet



Bei einem Spaziergang am nächsten Tag kamen wir an einem Fluss vorbei. Kurz entschlossen haben wir ein Bad genommen. Mangels Badehosen sind wir in Unterhosen geschwommen, den Anblick von HJ werden wir sicher alle nicht vergessen, selten haben wir auf unserer Reise mehr gelacht.

Badeplatz am Fluß

Treffpunkt für Kursker Kinder

Sehr schöne Flußlandschaft


Als problematisch sollte sich in Kursk die Benzinversorgung zeigen. A93 oder besseres Benzin war in der Zeit in Kursk nicht, bzw. nur sehr schwer zu erhalten. Erst mehrmaliges, längeres Verhandeln unseres Gastgebers Lenar führte dazu, das wir doch noch 40 Liter A93 zum Preis von DM 15,00 bekommen haben.

Die Erlebnisse in Kursk lassen sich in solch einem Reisebericht nur unvollständig wiedergeben. Sie waren zum
Teil sehr persönlicher Art und haben dazu geführt, dass wir uns als Freunde in Kursk verabschiedet haben.



Abschied in Kursk


Lenar schleuste uns mit seinem Auto am Tag der Abreise aus der Stadt. Nach einer herzlichen Verabschiedung, eines von Lenar gesungenen Abschiedliedes -er hat einen wunderbaren Bass und ist leidenschaftlicher Sänger- machten wir uns auf den Weg nach Smolensk.

Diesen Tag und die darauf folgende Nacht werden wir mit Sicherheit so schnell nicht vergessen.


Es begann damit, dass wir eine Tankstelle nach der anderen vergeblich anfuhren, um zu tanken. Benzin A93 war überall dem Militär vorbehalten und nur gegen Coupons, die wir nicht hatten, zu bekommen. Da halfen auch Devisen nichts. Wieder mussten wir uns auf ein Angebot von vier Russen -die uns an einer Tankstelle ansprachen- verlassen, um die erforderliche Spritmenge zu erhalten. Auf einem Hinterhof wurde aus Kanistern getankt.

Wir wurden eingeladen, bei Ihnen zu übernachten. Dummerweise haben wir dann erzählt, dass wir noch bis Smolensk weiterfahren wollten. Als wir aus der Stadt heraus waren, fuhren die Vier an uns vorbei.

Nach 20 oder 30 km sah ich den Wagen auf einem Parkplatz stehen. Von da an mussten wir feststellen, das uns die Vier bis Smolensk -über eine Strecke von rd. 150 km- gefolgt sind. Sie waren, nachdem sie uns unterwegs mehrfach überholten, auch vor uns an einem Campingplatz in Smolensk, den wir allerdings aufgrund der dubiosen Verhältnisse nicht nutzen konnten.


Dazu kam, dass an diesem Tag mein Motorrad streikte. Die Lichtmaschinen-Elektronik gab ihren Geist auf.

Die Stromversorgung meiner Maschine erfolgte nur noch über die Batterie, welche logischerweise am Abend leergezogen war. Ab der Ankunft in Smolensk ging nichts mehr. Zu einem in der Nähe gelegenen Intourist-Hotel musste ich mich von HR abschleppen lassen.

Zwischenzeitlich war es fast 23:00 h geworden. Im Hotel erklärte man mir, das es belegt sei und wir daher kein Zimmer bekommen könnten. Auch sonst war in Smolensk ohne Vorbuchung keine Unterkunft zu erhalten.

Nun standen wir da, keine Zimmer, ein defektes Motorrad mit leerer Batterie und das auf einem Hotelparkplatz, auf dem nach übereinstimmender Aussage der verschiedensten Leute auch die Schwarzmarktgeschäfte der “russischen Mafia”, sowie die Geschäfte von Zuhältern und sonstigen zwielichtigen Gestalten abgewickelt wurden. Diese Darstellung ist mit Sicherheit nicht übertrieben.

Im Licht der Straßenlaterne begann ich mein Motorrad zu reparieren.

Die Suche nach dem Kupferwurm



Nachtschicht


Ein junges Paar aus England -Neil und Linda Parker- das ebenfalls mit dem Motorrad unterwegs war und ein Hotelzimmer hatte, schmuggelte meine Batterie und ein Ladegerät in Holgers Fototasche auf sein Zimmer, damit eine Aufladung über Nacht erfolgen konnte.

Gegen 02.00 Uhr zog ein schweres Gewitter auf. Zum Glück hatten wir zwischenzeitlich Fritz aus Chemnitz, einen Fernfahrer, kennen gelernt, der uns die leere Ladefläche seines LKW als Domizil für die Nacht anbot.



Pause im Hotel "Fritz"


Eine Sache, für die wir sehr dankbar waren, denn das Gewitter entwickelte sich. zu einem stundenlangen Dauerregen, der erst am nächsten Morgen nachließ. Einen Vorteil hatte der Regen allerdings. Nach und nach verzogen sich die für uns nicht so angenehmen Gestalten von der Bildfläche. Während ich unsere Maschinen mit dem gesamten Gepäck in dieser Nacht nicht aus den Augen ließ, konnten meine Mitstreiter wenigstens für einige Zeit, wie sie es ausdrückten “Augenpflege” betreiben.

Rainer schläft wie immer den Schlaf der Gerechten



Heinzjürgen hält ja Wache


Am Morgen stellte sich dann heraus, das die von mir mitgefiihrte Ersatz-Elektronik bedauerlicherweise auch defekt war. Die stundenlange Nachtreparatur war damit umsonst gewesen. Aber die über Nacht aufgeladene Batterie reichte dann aus, um nach Minsk, unserem nächsten Etappenziel zu gelangen.

Hier legten wir einen Ruhe- und auch Reparaturtag ein, um uns selbst ein wenig nach den Erlebnissen in Smolensk zu erholen und auch unsere Motorräder, insbesondere natürlich meine eigene Maschine, wieder auf Vordermann zu bringen.




Unsere Unterkünfte in Minsk

Erneute Suche nach dem Kupferwurm, diesesmal erfolgreich

Putz und Flickstunde


Zum Glück hatten wir die originale Diodenplatte plus Regler der GUZZI dabei. Die Umrüstung war schnell gemacht, die Lichtmaschinenprobleme damit behoben. Vor der Abreise in Minsk kontrollierte ich meine Vorräte. Ich wollte nur noch die Dinge mitnehmen, die unerlässlich waren. Einer alten Frau, die zufällig vorbei kam, schenkte ich die restlichen Konserven, Damenstrümpfe, Kugelschreiber, eine preiswerte Armbanduhr u.a.



Es war schön, dass wir Freude bereiten konnten


Sie bedankte sich überschwänglich, fiel auf die Knie und wollte mir vor Dankbarkeit die Hand küssen. Es war ein Erlebnis, welches nicht nur mich außerordentlich bewegt hat. Auch HR und HJ verfuhren in gleicher Weise.

Für die alte Frau war es wohl ein Festtag. Sie verschwand mit den Sachen und kam bald darauf mit einem Wassereimer voll Äpfeln zurück, um uns diese zu schenken. Wir nahmen jeder einen Apfel und gaben ihr zu verstehen, dass wir aus Platzgründen keine Äpfel mitnehmen könnten. Sie bedankte sich noch mal bei uns und ging davon, nicht ohne uns immer wieder zuzuwinken.

Damit neigte sich unser Rußlandabenteuer auch so langsam dem Ende zu.

Nach einer problemlosen Fahrt auf einer überraschend guten Straße erreichten wir am 20.08. Brest.

An einer kilometerlangen Schlange wartender Pkws fuhren wir einfach vorbei in Richtung Grenzübergang. Es war richtig so, denn wir umgingen damit eine Wartezeit von angeblich rund 15 - 20  Stunden. Ein wenig Glück gehört halt auch dazu. Mit unseren Gespannen waren wir doch so etwas wie Exoten, was zu einer bevorzugten Abfertigung beigetragen hat.


Auch die Einreise nach Polen gestaltete sich entgegen aller Erwartungen als problemlos. Nach etwa 2 Stunden Wartezeit und einer ausführlichen Kontrolle konnten wir den Grenzübergang passieren und nach Siedlice weiterreisen. Fritz aus Chemnitz, unser ‘Gastgeber” in Smolensk, hatte uns dort ein Motel mit gut bewachtem Parkplatz empfohlen. Wie sich herausstellte, ein prima Tipp.

Im Vergleich zu Russland erschien uns Polen wie jedes andere westliche Land. Gute Straßen, relativ gepflegte Häuser, moderne Tankstellen und auch sonst keine offensichtlichen Versorgungsprobleme an unserer Strecke.

Tankrast in Polen

Es war ein erholsames Fahren. Deutlich wurde, dass sich Polen schon seit ca. 10 Jahren um eine Annäherung an westliches Niveau bemühte.

Gegen 17.oo Uhr am 21.08. passierten wir die Grenze zur Bundesrepublik. Gemeinsam mit einem Schweizer Ehepaar, dem am finnisch/russischen Grenzübergang die Einreise mit dem Motorrädern im Gegensatz zu uns nicht gestattet wurde.



Erste Pause auf deutschem Boden


Sie fuhren ersatzweise durch die drei baltischen Staaten. Eine Route, die auch wir als eventuelle 2. Alternative vorgesehen hatten, falls die Einreise nach Russland verweigert worden wäre.

Nach der Ankunft in Smolensk hatte HR versprochen, den Boden der Bundesrepublik zu küssen -so wie es der Pabst bei seinen Besuchen immer zelebriert- wenn wir diese gesund erreichen würden. 

Unmittelbar nach dem Grenzübertritt, noch in Sichtweite der Zollbeamten, löste er das Versprechen ein.



Ein überglücklicher "Heimkehrer"


An diesem Tag fuhren wir noch bis Fürstenwalde, kurz vor Berlin.

Hotel in Fürstenwalde

In einem kleinen Hotel bekamen wir am späten Abend zwei Doppelzimmer. Obwohl die Küche eigentlich schon geschlossen war, bereitete uns der Küchenchef auch noch ein Abendessen. An diesem Abend feierten wir unsere Rückkehr und um Mitternacht HR’s 49. Geburtstag.

Trotz aller positiven Erlebnisse während der vergangenen zwei Wochen waren wir froh, wieder in heimischen Gefilden zu sein. Wenn man ein Land wie Rußland bereist hat, sieht man auch Deutschland wieder mit anderen Augen. 



Wir waren froh, dass wir die Reise so gut überstanden hatten


Genau genommen leben wir, gemessen an Russland und vergleichbaren Ländern in geradezu paradiesischen Verhältnissen. Wir sollten uns das ruhig öfter vor Augen führen und immer wieder darüber klar werden, wie viel Glück Deutschland auch im Hinblick auf die politische Entwicklung nach 1945 hatte. Deutschland lag glücklicherweise auf der richtigen Seite unseres Kontinentes.

Wir werden diese Tour durch Russland, die Menschen die wir getroffen haben und die gewonnenen Eindrücke mit Sicherheit in guter Erinnerung behalten. Wir hoffen, gemeinsam mit den gewonnenen Freunden, dass die in Gang gesetzten Reformen schnell genug greifen werden. Denn das wird eine der Voraussetzungen für einen dauerhaften Frieden in Europa sein.

Darüber hinaus können wir nur allen Interessierten empfehlen, Verbindungen zu knüpfen und zu pflegen, in dieses Land zu reisen. Die Menschen dort brauchen diese Begegnungen und den damit verbundenen Meinungsaustausch. Sie haben einen riesigen Informationsmangel und Nachholbedarf. Jeder Einzelne von uns kann mit Sicherheit ein klein wenig dazu beitragen, das sich die Situation in diesem Land stabilisiert!

Damit will ich den Bericht abschließen. Es gäbe noch so vieles zu sagen. Beim Schreiben sind mir immer wieder einzelne Erlebnisse in Erinnerung gekommen, die erwähnenswert wären. Aber irgendwann sprengt das den zur Verfügung stehenden Rahmen. Vielleicht gibt es noch einmal die Gelegenheit, diese Dinge anzusprechen.

Nach meiner Rückkehr wurde in den Speyerer Zeitungen über unsere ungewöhnliche Reise in die Partnerstadt Kursk ausführlich berichtet.




Das hatte zur Folge, dass ich zu einem 10-minütigen Interview im RNF, dem Regionalprogramm von RTL in eine Livesendung eingeladen wurde, in der ich über diese Reise berichten konnte.

Darüber hinaus haben Holger und ich einige Zeit später im Radio in der vierstündigen Sendung „Mein Abenteuer“ ebenfalls über unsere Erlebnisse gesprochen.

Heute, fast 24 Jahre, später zählen Lenar und Victorija immer noch zu unseren engen Freunden. Seit der ersten Begegnung waren wir schon dreimal in Russland und Lenar und Victorija haben uns mehrmals in Deutschland besucht.


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